Die Hirnforschung konnte mit bildgebenden Verfahren aufzeigen, welche neuronalen Vorgänge beim Lernen notwendig ablaufen müssen.
Lernen aus neurobiologischer Sicht
Unter welchen Bedingungen „lernt“ das Gehirn Neues? Die wichtigste Funktion des Bewusstseins besteht darin, Neulernen zu fördern. Wenn das Gehirn mit Reizen konfrontiert ist, die so neu und komplex sind, dass sie nicht unbewusst zu bewältigen sind, die so wichtig sind, dass sie nicht weggefiltert werden können, ist Bewusstsein nötig. Die Großhirnrinde ist dann gezwungen, die neuronalen Korrelate von vorhandenem Wissen in neuartiger Weise zusammenzusetzen, sodass das Neue integriert werden kann.
Kognitionen und Emotionen
Bedeutsam war die Entdeckung, dass die neuronalen Korrelate von Emotionen und Motivationen an allen kognitiven Prozessen beteiligt sind. Der für Denken und Entscheiden zuständige präfrontale Cortex ist durch Faserbahnen fest mit dem limbischen System, welches das zentrale Bewertungssystem des Gehirns ist, verdrahtet. Umweltreize, Vorstellungen und Pläne werden im Lichte vergangener Erfahrungen daraufhin geprüft, ob sie gut, vorteilhaft und lustvoll waren und entsprechend wiederholt werden sollten oder schlecht, nachteilig bzw. schmerzhaft waren und deshalb zu meiden sind. Jede Situation wird vom limbischen System geprüft, ob sie bekannt ist bzw. einer früheren sehr ähnelt und welche Erfahrungen damit gemacht werden. Dabei werden die Details der Geschehnisse vom Hippocampus hinzugefügt.
Die Spiegelneuronen ermöglichen dem Therapeuten eine einfühlend-verstehende Interpretation des emotionalen Ausdrucksverhaltens beim andern (Mimik, Gestik, Tonalität, Körperhaltung).
Motivation
Das Motivationssystem im Mittelhirn sorgt für Antrieb, Neugier und Belohnungserwartung, welche von der Belohnungserfahrung abhängt. Der Botenstoff Dopamin ist entscheidend an motivationalen Prozessen beteiligt. Die psychologische Bedeutung dieser neurobiologischen Vorgänge kann mit den „Selbstbestimmungstheorien“ interpretiert werden. Demnach haben Menschen angeborene psychische Grundmotive: Das Kompetenz- und Kontrollmotiv und das Bindungsmotiv. Sie dienen zwei überlebenswichtigen Zielen: Der Entwicklung von Fähigkeiten, um sich in der Umwelt behaupten zu können, und dem Zusammenhalt des sozialen Systems, auf dessen Fortbestand der einzelne angewiesen ist. Ein weiteres Motiv ist das Bedürfnis, den Selbstwert zu erleben bzw. zu erhöhen. Die Grundbedürfnisse steuern das Verhalten, es geht darum, sie zu befriedigen und vor Verletzung zu schützen. Intrinsische Motivation wird durch Kompetenzerlebnisse gespeist. Durch die Erfahrung bei der Hypnotherapie, dass man eigenständig seine Ziele erreichen kann, wird das Selbstwertgefühl erhöht.
Somatische Marker
Der Neurophysiologe Antonio Damasio hat die zentrale Rolle von Gefühlen beim Denken und Entscheiden entdeckt. Er unterscheidet zwischen den angeborenen primären Emotionen wie Freude, Furcht, Wut, Trauer, Ekel und den sekundären Emotionen, die Ergebnis der individuellen Lerngeschichte sind. Vorgestellte Szenarien können dahingehend geprüft werden, ob sie in der Vergangenheit mit positiven oder negativen Affekten verbunden waren und folglich auch wieder sein werden. In Millisekunden wird im limbischen System vorentschieden, was für den einzelnen zuträglich ist, zu tun, bevor er ein mögliches Handlungsszenario rational überprüft und auswählt. Die limbischen Bewertungen werden als bewusste Empfindungen körperlich repräsentiert, Damasio nennt sie deshalb „somatische Marker.“
Die Entdeckung hat große Bedeutung für das systemische Handeln. Man kann den Klienten mit seinem „Bauchgefühl“ prüfen lassen, ob das, was man vorschlägt, zu ihm passt oder nicht. Auf diese Weise wird seine Autonomie respektiert.
Angst-Symptomatiken
Die Amygdala ist eine Struktur im limbischen System, welche Angstgefühle generiert. Bedrohliche Signale aus der Außenwelt kommen über die Schaltstelle des Thalamus auf zwei Wegen zur Amygdala. Eine direkte Verbindung ermöglicht schnellstmögliche Reaktionen auf die Gefahr. Der Vorteil dieses Schaltkreises ist, dass er Reaktionen ermöglicht, bevor wir denken können. Ein anderer Weg führt vom Thalamus zur Großhirnrinde und zum präfrontalen Cortex, wo die Signale differenziert verarbeitet werden.
Wenn jemand unter Ängsten, Depressionen und traumatisierenden Erlebnissen leidet, ist seine Amygdala intensiv erregt, sie feuert viel schneller und intensiver als in einem ausgeglichenen Zustand. Diese Erkenntnisse sind für therapeutisches Handeln bedeutsam. Die Prozesse bei einer Angstsymptomatik sind durch Sprache nicht beeinflussbar. Denn die Amygdala löst Reaktionen aus, die sich willentlich nicht beeinflussen lassen. Mit hypnotherapeutischen Interventionen jedoch ist das möglich, denn hierbei werden die inneren Bilder genutzt.
Das neuronale Gedächtnis
Auch die Vorgänge in der einzelnen Nervenzelle sind weitgehend bekannt. Neu und nachhaltig Gelerntes verändert die Stärke der synaptischen Verbindungen zwischen den Gehirnarealen. Problematisches Verhalten ist in stabilen neuronalen Schaltkreisen gespeichert. Für gewünschte Veränderungen müssen neue neuronale Schaltkreise durch emotional intensive neue Erfahrungen gebahnt und gefestigt werden. Aus neurobiologischer Sicht ist dies die Hauptaufgabe des Therapeuten.
Die Bedeutung der Hirnforschung für die Therapie
Sie beschreibt allgemeine Funktionen der Gehirnareale. In der systemischen Praxis werden sie systematisch genutzt. Die komplexe Wirklichkeit, mit der es der Systemiker zu tun hat, lässt sich mit dem Fokus auf das emotionale Ausdruckgeschehen auf wenige, handlungsleitende Aspekte reduzieren.
PS: Um der sprachlichen Einfachheit willen verwende ich das männliche grammatische Geschlecht (Lat. „homo“ = Mensch).